Am 16. 11. 2007 beging die Fakultät
Sozialarbeit in einer großen Feier ihr
zehnjähriges Bestehen, der Mitbegründer war eingeladen. Prof. Dr.
F. Schmidt mit Ludmila Neuman (Rektorat Auslandsbeziehungen). Die Festrede ist hier
wiedergegeben:
Die Interdependenz von Theorie und
Praxis in der Sozialarbeit,
Konsequenzen für das Studium
Gestatten Sie mir, werte Kolleginnen,
dass ich kurz in die Geschichte eintauche,
um die Entwicklung darzustellen. Soziale Arbeit hat in Deutschland eine lange
Tradition. Ursprünglich gingen Armenfürsorge und Hilfe für Menschen in Not von
den Kirchen aus; sie prägten die Fürsorge wesentlich. Auch die Ausbildung blickt
auf eine hundertjährige Geschichte zurück. Sie ist von Auseinandersetzungen
über Ziele, Inhalte und Methoden geprägt. Mancher Streitpunkt kehrt bis heute
ständig wieder, gehört zum Wesen der Sozialen Arbeit, bestimmt Konflikte über
Maßnahmen ebenso wie über Studienreformen.
Nicht alle Hochschulen konnten auf Vorläuferinstitutionen
zurückgreifen wie die
Fachhochschule Kiel: 1919 wurde die Kieler Wohlfahrtsschule für Schleswig-
Holstein gegründet, die Frauen für soziale Berufe ausbildete. In der Weimarer
Republik wurde der Zusammenhang von Politik, Wirtschaft und Sozialarbeit
überdeutlich: hohe Arbeitslosigkeit, galoppierende Inflation. Die Unterstützung, zu
wenig zum Leben und zuviel zum Sterben, schrumpfte auf dem Weg vom
Fürsorgeamt zum Kaufladen auf die Hälfte.
Wie massiv Politik die Sozialarbeit beeinflusst,
zeigte das totalitäre Nazi-Regime:
Wohlfahrtsverbände wurden aufgelöst; die Jugendarbeit übernahm die Hitler-
Jugend; Behindertenarbeit gab es nicht mehr, geistig Behinderte wurden in
geschlossene Anstalten gesteckt oder umgebracht. Wohlfahrt gab es nur für
Menschen, die ins Konzept der irrsinnigen Rassendoktrin passten: Juden wurden
die Sozialleistungen gestrichen, ihre Kinder durften nicht aufs Gymnasium oder
studieren; jüdische Professoren wurden auf die Straße gesetzt. Der Holocaust
beganm mit sozialer Ausgrenzung.
Nach dem Krieg ließen die westlichen
Besatzungsmächte die Wohlfahrtsverbände
wieder zu. 1947 wurde die Wohlfahrtsschule erneut begründet, 1966 in die
Höhere Fachschule für Sozialarbeit umgewandelt. 1969 wurde sie zum
Fundament, auf dem der Fachbereich Sozialwesen errichtet und in die FH Kiel
eingegliedert wurde. Fachhochschulen sind aus den Ingenieurschulen
hervorgegangen, für die Praxisnähe selbstverständlich war.
Es gibt in Deutschland verschiedene Träger
von Hochschulen, die für Soziale
Arbeit ausbilden, meistens staatliche. Im Unterschied zu Russland war
Deutschland Jahrhunderte wie ein bunter Teppich in zahlreiche Klein- und
Kleinststaaten zersplittert. So entwickelten sich unterschiedliche
Organisationsformen der Fürsorge. Noch heute gibt es zwei große Träger der
Sozialarbeit, die den Kirchen nahestehen: die Caritas der katholischen, das
Diakonische Werk der evangelischen Kirche. Das Diakonische Werk vertritt
26.000 selbständige Einrichtungen (2003): Krankenhäuser, Kindergärten, Heime,
Behindertenklubs usf. Sie beschäftigen etwa 400.000 hauptamtliche Mitarbeiter.
Beim Deutschen Caritasverband (*1897) ist es ähnlich.
Diakonisches Werk und Caritas sind wie
das Rote Kreuz oder der Paritätische
Wohlfahrtsverband Dachverbände, die die Interessen zahlloser Vereine vertreten.
Alle sind privatrechtlich organisiert: Der Staat kann ihnen keine Weisungen
erteilen, nicht über das Personal oder die Verwendung der Mittel bestimmen. (In
Russland dagegen dominieren staatliche Träger, private Träger werden ungern
gesehen.) Bei uns gilt: Für Leistungen, die private Träger erbringen können,
haben sie gegenüber dem Staat den Vorrang. Der Staat bezahlt die Leistungen,
überlässt die Durchführung aber privaten Trägern. In der Regel arbeiten sie
schneller, besser und billiger.
Für den Zusammenhang zwischen Wechselwirkung
von Theorie und Praxis ein
Beispiel: Mitte der siebziger Jahre wurden die Kollegen nacheinander ins
Kultusministerium gebeten; ein Ausschuss aus Praxis, Hochschule und Ministerium
diskutierte die Curricula mit den Fachvertretern, ob sie mit den Anforderungen der
Praxis übereinstimmten. Auch ich als Vorsitzender des Lehrbereichs Politologie
saß dort. Allerdings konnte der Ausschuss nur Empfehlungen geben. Auch das
Ministerium hätte mich nicht zwingen können, Inhalte zu ändern: Die Verfassung
sagt in Artikel 5: Forschung und Lehre an den Hochschulen sind frei. (Bei uns
kann kein Politiker Verfassungsgesetze verändern oder missachten.) Das
Hochschulgesetz von Schleswig- Holstein formuliert es so: Die Freiheit der Lehre
umfasst die Lehrmeinung, den Inhalt der Lehre, ihre Methode und die Form ihrer
Darstellung.
Uns war aber klar, dass von der Zusammenarbeit
mit der Praxis nicht nur die
Chancen der Absolventen abhingen, sondern auch die Fortentwicklung der
Sozialarbeit. Wir bemühten uns in den folgenden Jahrzehnten, Inhalte und
Erfordernisse der Praxis in Einklang zu bringen. Deshalb predigte ich beim Aufbau
dieser Fakultät ständig, die Praxis einzubinden. Zum Glück rannte ich in den
Verwaltungen und bei Kolleginnen, die den Aufbau der Fakultät vorantrieben,
offene Türen ein.
Im Alexander-Herzen-Programm haben eine
staatliche und eine kirchliche
Hochschule Projekte in Sozialarbeit koordiniert. Die Evangelische FH Bochum hat
in ihrem Projekt mit der Fakultät Sozialarbeit der Universität Wologda u.a. ein
Fachlexikon der Sozialarbeit auf Russisch herausgebracht, in dem auch Frau
Malik und ich Artikel verfasst haben. In unserem Projekt standen der Ausbau der
Fakultät und parallel dazu die Entwicklung der Praxis im Zentrum. Noch ehe das
Studium begann, wurden Fortbildungen für Praktiker angeboten. Das fand im
Gebiet und in den Städten Anerkennung. Es war gerade am Anfang wichtig, diese
zu überzeugen, dass hier Fachleute ausgebildet werden, die man in der Praxis
dringend brauchte.
In den letzten 25 Jahren haben sich die
Fachbereiche Sozialarbeit rasant
entwickelt: 85% aller Studierenden studieren an Fachhochschulen, 10 % an
Universitäten, 5 % an Päd. Hochschulen und Berufsakademien. Bei uns ist es
Numerus-Clausus- Fach mit erschwerter Aufnahme: Abiturnote 1,8;
Praxiserfahrung usf. Am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit werden pro
Semester 87 Studierende aufgenommen, 2/3 Frauen; das Studium gibt Frauen
(auch älteren) Chancen zur Qualifizierung. Auf einen Studienplatz kommen 7
Bewerber. Die Nachfrage ist Ergebnis des effizienten Studiums und der
Akzeptanz in der Praxis. Etwa 930 Studierende sind immatrikuliert, 55 % schaffen
es in der Regelstudienzeit (8 Semester), 17 % brauchen über 12 Semester. Um
2000 gab es in D. 62 Hochschulen, die Sozialarbeit anboten: 36 staatliche, 8
katholische, 12 evangelische FHs, 1 FH der Stiftung Rehabilitation, 4 staatliche
und eine katholische Universität; 4 Bundesländer mit Berufsakademien. Insgesamt
studieren über 30.000, etwa 7.500 schließen pro Jahr das Studium ab. Die
Verfassung der Hochschule, die Studien- und Prüfungsordnung entwickeln die
Hochschulen, die Landesministerien müssen sie genehmigen.
Einrichtungen, Verbände und Verwaltungen
legen auf ein praxisnahes Studium
wert. Deshalb haben wir einen Beirat mit Praxisvertretern, in dem die großen
Linien der Entwicklung diskutiert werden. Auch an dieser Fakultät wurde ein
Beirat gegründet, aber ich gestehe, nicht zu wissen, ob er noch besteht und was
er gebracht hat.
Wissenschaftlich betreute Praxissemester
gehören zum Studium. Das Praktikum
beurteilen Institutionen und Verbände, es ist Gradmesser für die
Leistungsfähigkeit des Studiums. Studierende sollen sich nicht zu früh
spezialisieren, sondern ein breites Grundwissen, berufliche Handlungsfähigkeit
und generelle Orientierung erwerben, Methoden in Projekten erproben.
Gruppendynamik, Gesprächsführung, Sozialmanagement in Einrichtungen,
Training sozialer Kompetenzen usf. sind an Schwerpunkte gekoppelt und reichen
in die Arbeitsfelder hinein. Das hat die Fakultät hier auch verwirklicht, oft besser
als bei uns. Durch Projekte sollen konzeptionelle Überlegungen in die künftige
Berufspraxis einfließen, Praxisnähe ist keine Einbahnstraße! Praxis kann nur so
gut sein wie die Theorie, auf deren Basis sie arbeitet.
Das Kollegium setzt sich aus Vertretern
der Pädagogik, Psychologie, Soziologie,
Jurisprudenz, Politologie, Medizin und Sozialarbeit zusammen. Die Berufung setzt
fünf Jahre Praxis voraus. Praxisnähe wird auch durch Lehrbeauftragte erreicht,
die bei uns 50% der Lehre im Hauptstudium durchführen.
Ich bin dankbar, dass es für die
Projekte in Archangelsk gelang, viele
Praxisvertreter für Vorträge und Übungen zu gewinnen. An dieser Stelle möchte
ich Herrn Medrisch, damals Geschäftsführer des Paritätischen
Wohlfahrtsverbandes, für seinen Einsatz danken. Ohne ihn wäre es nicht
gelungen, Mitarbeiter in Einrichtungen zu überzeugen, wie wichtig sie für
Archangelsk sind. Den Kollegen aus der Praxis, die oft ihren Urlaub verwendeten
und nichts bezahlt bekamen, hier ein besonderer Dank.
Der gesellschaftliche Wandel brachte neue
Fächer: Sozialmanagement,
Qualitätssicherung, Arbeit mit Senioren usf. Viele erforderlichen Kompetenzen
kann die Pädagogik nicht leisten: Betriebswirtschaft, Organisation und Planung,
Mitarbeiterführung, Marketing. Die pädagogische Orientierung verlagerte sich auf
Verwaltungs-, Organisations- und Managementaufgaben. Inhalte sind zu erneuern
und umzustrukturieren, Disziplinen und Methoden anders zuzuschneiden und an
Problemfeldern auszurichten. Damit beschäftigt sich die Wissenschaft von der
Sozialen Arbeit, aber auch mit neuen sozial- ökonomischen und -ökologischen
Konzepten.
Die vielen Disziplinen erleichtern die
Erneuerung von Studienkonzepten und -
strukturen. Aufbau-, Weiterbildungs- und Ergänzungsstudiengänge unterstützen
die Anforderungen der Praxis. Arbeitsgemeinschaften und Beiräte, in denen
Träger, Verwaltungen und Hochschulen vertreten sind, diskutieren neue Konzepte
und gravierende Änderungen der Inhalte. Das bedeutet auch eine
Qualitätssicherung für die Ausbildung.
Inzwischen ist die Soziale Arbeit an Hochschulen
etabliert. Die Forschung erhält
mehr Aufmerksamkeit; allerdings bleibt die Anwendbarkeit der Ergebnisse
entscheidendes Kriterium. Verfeinerte empirische Methoden und qualitative
Verfahren ermöglichen die praxisnahe Forschung. Private und öffentliche Träger
suchen zunehmend Hochschulen als Partner für Forschungs- und
Entwicklungsaufgaben wie Sozialplanung, Stadtteiluntersuchung, Analysen
sozialer Brennpunkte usf. Sie stellen Wissen zur Verfügung, das die Qualifizierung
beruflichen Handelns ermöglicht. Umgekehrt werden Praktiker gezwungen, sich
mit neuen Theorien auseinanderzusetzen. Forschung ist ein gegenseitiger
Wissenstransfer.
Bereits vor zehn Jahren war im Tempus-Tacis-
Projekt die Gründung eines
Instituts für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit vorgesehen. Im Alexander-
Herzen- Projekt wollten wir es verwirklichen, schafften es nicht. Jetzt soll es, wie
ich hörte, konkrete Gestalt annehmen.
Bei uns stellen Studierende eigene Studienwege
zusammen. Sie sollen das
Lernen selbstverantwortlich organisieren, Planungs- und Handlungskompetenz
erwerben. Die Wahl entspricht der Vielfalt der gesellschaftlichen Entwicklung.
Das Studium wird mit unterschiedlichen Lebens- und Berufserfahrungen,
Familiensituationen (Alleinerziehende mit Kind) und finanziellen Voraussetzungen
begonnen; viele haben durch lange Wartezeiten Vorerfahrungen gesammelt, 2/3
eine abgeschlossene Berufsausbildung, 1/3 in sozialen Berufen. 54 % arbeiten
neben dem Studium, meist halbtags oder stundenweise.
Die Zahl der im Sozialbereich Tätigen
ist ständig gestiegen, betrug 2000 in D.
etwa 900.000 Personen. Im Vergleich zu anderen akademischen Berufen sind die
Chancen gut, die Wartezeit zwischen Studienabschluss und Erwerbstätigkeit ist
kurz. Allerdings ist der Anteil befristeter Beschäftigungen und Teilzeitstellen
erheblich gestiegen.
Die Internationalisierung der Studiengänge,
die Anerkennung von
Prüfungsleistungen, der Austausch sowie internationale Kontakte haben
zugenommen; Tempus-, Erasmus- und Sokratesprogramme haben das
Repertoire an Methoden erweitert, den Standard verbessert.
Abschließend möchte ich festhalten,
dass sich in Deutschland für die Sozialarbeit
die Fachhochschule durchgesetzt hat. Nicht zuletzt deshalb, weil sich traditionelle
Universitäten mit der Einbeziehung der Praxis schwer tun. Ich freue mich, dass
dies an der Pomoren Universität anders ist: Hier ist die Verbindung zur sozialen
Praxis geglückt, die wechselseitige Beeinflussung von Theorie und Praxis
funktioniert. Dazu gratuliere ich allen Mitarbeiterinnen der Fakultät!